Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 10


Kapitelinhalt 101. Kapitel: Bedenken des Hauptmanns über die Naturschönheiten.

01] Darauf ging der Priester hin zu seinen Kollegen, die schon mit brennender Sehnsucht auf seine Rückkehr harrten. Als er zu seinen Kollegen kam, da erzählte er ihnen alles, was er gesehen und erfahren hatte, und diese wurden voll Staunens.

02] Und einer von ihnen, ein alter Grieche, sagte: »Was braucht es da an ein Weiteres? Der Mensch ist ein Gott, und wir wollen das tun, was Er angeordnet hat, und wir werden leben.«

03] Und so wurden an diesem Abend die Heidenpriester zu Meinen Jüngern in der Stadt Aphek und gaben Mir am nächsten Tage ihr Bekenntnis und ihre Gelübde ab.

04] Wir aber begaben uns zur Ruhe nach dem Abgange des Priesters und ruhten wohl bis zum Morgen.

05] Wie allzeit so auch diesmal befand Ich Mich mit Meinen Jüngern und mit dem Hauptmanne schon eine volle Stunde vor dem (Sonnen)Aufgange im Freien; und da es ein ganz heiterer Morgen war, so genossen wir von einer Höhe außerhalb der Bergstadt eine überaus schöne Fernsicht und so manche überraschend schöne Morgennaturszene.

06] Als der Hauptmann und auch unser Wirt an Meiner Seite die schöne Natur ganz entzückt bewunderten, da sagte nach einer Weile des seligen Bewunderns der Hauptmann zu Mir: »Herr und Meister, es ist den Menschen kaum zu verargen, daß sie nach und nach weltliebig und am Ende gar abgöttisch geworden sind; denn was der Mensch mit all seinen Sinnen wahrnimmt in seinem offenbar anfänglichen Naturzustande, das nimmt ihn mit einer oft unwiderstehlichen Macht gefangen, und alle noch so geistigen Lehren und Reden können ihn von den Fesseln, die ihm die zahllosen Reize der Welt angelegt haben, nicht von heute bis morgen ablösen. Wie heute der Morgen mit zahllosen Reizen geschmückt ist, so war es sicher auch schon zahllose Male. Und daß beim Anblick solcher Schönheiten die Menschen in allerlei seltene (seltsame) Phantasien geraten sind, ist mir nun ganz leicht begreiflich; und daß sie sich in dieselben stets mehr und mehr vertieft und in ihnen begründet haben, das bewirkte ebenfalls die zu schöne und stets wechselvollste Szenerie der Natur.

07] Bis ein Mensch sich ganz von allen Anreizungen der Welt abziehen kann, dazu gehört schon ein höchster Grad der heldenmütigsten Selbstverleugnung.

08] Ich denke es mir nun, daß Menschen, die nicht in gar zu reizend schönen Gegenden der Erde wohnen und leben, für rein geistige und somit übersinnliche Wahrheiten empfänglicher sein dürften als Menschen, die da Bewohner eines zu schönen Landes sind.

09] Ich betrachte da nur das alte, höchst traurig aussehende Ägypten. Solange es die Menschen durch ihren Fleiß noch nicht kultiviert hatten, da gab es darin geistig geweckte Menschen in großer Menge; sowie aber der Fleiß der Menschen die sterile Natur dieses großen Landes sehr zu verschönern angefangen hatte, da verlor sich ihr geistiger Sinn auch stets mehr und mehr, und der naturmäßige gewann nur zu bald die Oberhand, und es entstanden allerlei Bilder und aus ihnen allerlei Götter, und der Geist des Menschen, als sein größtes Lebensgut, verlor sich ganz, und Moses selbst mußte das zu versinnlichte Volk Israel bei vierzig Jahre lang in der unwirtlichsten und naturunschönsten Wüste festhalten, um es fürs innere Gottgeistige empfänglich zu machen.

10] Und so bin ich denn der Meinung, daß diese Erde zum großen Teil für die geistige Bildung der Menschen denn doch viel zu reizend und schön ist.

11] Mir gefällt dieser Morgen freilich wohl unbeschreiblich gut; aber ich fühle es auch, welchen bezaubernd mächtigen Eindruck er auf ein gesundes, junges Gemüt ausüben muß.«

12] Sagte Ich: »Du hast schon recht zu einem Teil, aber zum andern nicht! Denn so Ich die Menschen dieser Erde nicht also gestellt hätte, daß sie sich selbst infolge ihres freien Willens, ihrer Vernunft und ihres Verstandes zu bilden hätten und zu suchen Meinen Geist in sich, so hätte Ich sie ja als Polypen irgend im finstersten Abgrunde des Meeres können ruhen lassen. Aber so kann das nicht sein, da der Mensch ein völlig freies Wesen ist und sich selbst zu bilden hat.

13] Siehe, diese ganze, große und schöne Weltnatur ist demnach für die Selbstbildung des Menschen höchst notwendig; denn ohne sie würde es mit seinem Denken, Fühlen und Empfinden ganz mager aussehen, und er würde sich nicht viel über das Reich der Tiere erheben! Da aber die Erde so überaus mannigfach mit allen Kreaturen ausgestattet ist, so muß der Mensch sie einmal mit verwunderndem Wohlgefallen zu betrachten anfangen, und aus solchem Betrachten und Vergleichen der verschiedenen Dinge durch alle Reiche der Natur dieser Erde und so auch des steten Wechsels der Tages- und Jahreszeiten und auch der Gestirne am Himmel, geht der Mensch notgedrungen in ein stets tieferes Denken über und fängt dabei denn auch an, den Urgrund des Daseins so zahllos vieler Dinge zu suchen und zu erforschen. Und ist der Mensch durch die Eigentätigkeit einmal so weit gekommen, so komme auch Ich ihm entgegen und offenbare Mich ihm stets mehr und mehr und klarer und klarer.

14] Darum, Mein Freund, ist es schon ganz recht also, daß diese Erde, auf der die Menschen berufen sind, Gottes Kinder zu werden, eben in allem so schön und höchst mannigfaltig ausgestattet ist!

15] Aber freilich soll der Mensch nicht mit zu viel Liebe diese schöne Welt erfassen und mit all seinen Sinnen an ihr hängen; denn dadurch wird er materiell in seiner Seele und entfernt sich von dem, was er anstreben soll, stets mehr und mehr und wird blind, finster und böse in diesem kurzen Willensfreiheitsprobeleben.

16] Wie schwer aber dann solche Menschen auf die rechte Bahn des Lebens zu bringen sind, das lehrt die Erfahrung aller Zeiten, und du selbst hast darin schon gar viele Erfahrungen gemacht und wirst noch viele machen.

17] Nun aber kommen etwelche Priester mit dem einen, der gestern von Mir belehrt worden ist, zu uns heraus und wollen sehen und erfahren, was denn so ganz eigentlich an Mir ist, denn der von Mir schon Belehrte hat ihnen ein Lichtlein angezündet und sie zu einem tiefen Nachdenken genötigt. Lassen wir denn die Sucher zu uns kommen und auch finden, was sie sachen, nämlich die Wahrheit des Lebens!«



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