Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 10


Kapitelinhalt 202. Kapitel: Raphaels Beweis seiner Schnelligkeit.

01] Hierauf fragte Ich den Oberstadtrichter, ob er daheim bei seiner Mutter nicht irgend etwas besäße, das er gerne hier hätte.

02] Sagte der Oberstadtrichter: »Ja - wohl, Herr und Meister -, aber das ist schon zur Zeit, als ich noch in Rom war, derart verlegt worden, daß wir es trotz unseres fleißigsten Suchens nicht wieder haben auffinden können! Es ist nämlich unser alter Patrizierbrief, noch aus der Zeit des Julius Cäsar, in einer goldenen Kapsel. An diesem läge mir sehr viel, nicht so sehr meint-, als vielmehr meiner jüngeren Geschwister wegen.«

03] Und Raphael sagte, neben ihm sitzend: »Da siehe her, hier ist dein alter Patrizierbrief! Besieh ihn wohl, ob er der rechte ist!«

04] Der Oberstadtrichter, über alle Maßen erstaunt, öffnete die Kapsel und fand in derselben zusammengerollt seinen ihm nur zu gut bekannten Patrizierbrief und fragte den Raphael: »Ja, wie war dir das möglich?«

05] Und Raphael sagte: »Siehe, unsere Eigenschaft besteht unter anderm auch darin, daß wir uns in einem Augenblick von einem Ort zum andern und von da wieder zurück bewegen können, und so war ich denn in diesem Augenblick auch in Rom und bin nun wieder da.«

06] Fragte der Oberstadtrichter abermals den Raphael: »Wenn ich die Kapsel und auch den darin liegenden Patrizierbrief nicht so wohl kennte, so würde ich glauben, daß du ihn durch deine Macht ebenso erschaffen hast, wie du diese Gegend in einem Augenblick in den blühendsten Zustand versetztest; aber so muß ich diesen Glauben ob der Echtheit dieser Kapsel und dieses Briefes völlig aufgeben.

07] Du hast mir freilich gesagt, daß ihr vollkommenen Engelsgeister auch diese Eigenschaft besitzt, euch (in einem Augenblick) von einem Ort bis zu einem andern und von dort wieder zurückzubewegen. Das glaube ich nun auch; aber du warst nicht einen Augenblick abwesend von hier, und so bin ich der Meinung, du hast irgendeinen andern in deiner Nähe seienden dienstbaren Engelsgeist nach Rom entsendet, der dir auch schnell genug diese Kapsel überbringen konnte.«

08] Sagte Raphael: »O nein, mein lieber Freund, ich war es wirklich selbst; denn siehe, die Zeit kann auch so wie alles andere, was den Raum betrifft, in höchst kurze Abschnitte eingteilt werden, und zwar also, daß der Zeitraum, den du einen Augenblick nennst, in eine endlose Reihe von noch kürzeren Zeiträumen eingteilt werden kann! Für dich und dein Auffassungsvermögen ist solch ein Zeiträumchen freilich soviel wie gar nichts, aber nicht also auch für uns vollkommene Engelsgeister; denn ich vermag mich in einem solch kürzesten Zeiträumchen zahllose Male von hier aus in die größte Entfernung hin- und zurückzubewegen, und du wirst es nie merken, daß ich in der Zeit auch nur einen Augenblick abwesend war, und die auf dem entferntesten Punkte, dahin ich mich bewegte, werden meine Gegenwart so wenig vermissen wie du! Kennst du die Schnelligkeit des Gedankens?«

09] Sagte der Oberstadtrichter: »Ja, mein lieber himmlischer Freund, einen kleinen Begriff habe ich davon, und zwar vorzüglich aus der Lehre des weisen Plato!«

10] Sagte darauf wieder Raphael: »Wie heißt der entfernteste Ort, den du gewisserart persönlich kennst?«

11] Sagte der Oberstadtrichter: »Britannien! Denn bis dahin habe ich einmal eine Reise mit meinem damals noch lebenden Vater gemacht, und zwar zu Wasser, welche Reise hin und wieder zurück nach Rom über zwei volle Jahre gedauert hat.«

12] Sagte Raphael: »In welcher Zeit aber kannst du dich mit deinen Gedanken dahin begeben?«

13] Sagte der Oberstadtrichter: »Ja, lieber Freund, in einem Augenblick bin ich dort und hier auch zugleich, und ich meine, wenn ich mich noch tausendmal so weit bewegen müßte in Gedanken, so würde ich dazu auch nicht einer längeren Zeit bedürfen.«

14] Sagte darauf Raphael: »Siehe, mein lieber Freund und Bruder, die Eigenschaft, die du in deinen Gedanken besitzest, dieselbe Eigenschaft besitzen wir vollkommenen Geister in einem freilich viel vollkommeneren Grade im Reiche Gottes in der Wirklichkeit, und du wirst dieselbe Eigenschaft als ein reiner und freier Geist im Reiche Gottes ebenfalls, gleich mir, besitzen.

15] Ja, mein lieber Freund, das Reich Gottes ist nach allen Seiten hin von einer endlosen Ausdehnung! Könnten wir vollkommenen Geister uns nicht schneller bewegen, als ihr Menschen euch bewegt auf dieser Erde, da sähe es mit der Ausrichtung des Willens des Herrn in den entferntesten Punkten Seiner Schöpfungen sehr mißlich aus, - aber da die Zeit und der Raum uns vollkommenen Geistern gar kein Hindernis bieten können, so kann auch die Ordnung des Herrn in der ganzen Unendlichkeit niemals die allergeringste Störung erleiden. Verstehst du dieses, mein lieber Freund und Bruder?«

16] Sagte der Oberstadtrichter: »Ein wenig besser wohl denn früher; jedoch in die volle Tiefe dieses Bewegungsgeheimnisses werde ich mich wohl noch lange nicht zu versetzen imstande sein!«



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