Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 7


Kapitelinhalt 65. Kapitel: Das Schauvermögen der Seele nach dem Tode.

01] Wir aber gingen auch noch mehr fürbaß, und zwar auf dieses Berges höchsten Punkt. Da befand sich ein ordentliches Wäldchen von Ölbäumen, unter denen sich eine Menge Bänke und Sitze befanden, und alle ließen sich da nieder und lobten den Lazarus für solch eine zweckmäßige Herstellung von so vielen und so niedlichen Ruhebänken und Sitzen. Lazarus dankte allen für die gute Meinung und hatte eine rechte Freude darob. Von dieser nach allen Richtungen hin ganz freien Höhe genoß man die schönste Aussicht. Von da aus sah man den Jordan und sein Tal und - freilich in weiter Ferne - auch einen Teil des Toten Meeres.

02] Alle betrachteten mit großem Entzücken die schönen Gegenden, die umliegenden Städte, Flecken und Dörfer eine gute Weile lang, ohne ein Wort zu reden, und Agrikola sagte, als er sich alles sehr gut angesehen hatte: »Meine Lieben alle, wie ihr hier seid, und vor allem Du, o Herr und Meister, ich muß hier ganz offen gestehen, daß ich in unserem weiten Reiche noch niemals eine gar so wunderherrliche Gegend und Landschaft gesehen habe wie eben diese hier! Wahrlich, in solch einer herrlichen Gegend muß einem Menschen das Sterben noch bitterer und schwerer vorkommen, als in einer mehr wüsten und minder schönen Gegend! Denn da möchte man schon gleich so ewig fort leben und sich weiden an so einem Anblick! - Was sagst Du, o Herr und Meister, zu dieser meiner Meinung?«

03] Sagte Ich: »Freund, du hättest da mit deiner Meinung wohl recht, wenn die Seele nach des Leibes Tode im Verbande mit dem Geiste aus Gott nicht das Vermögen überkäme, endlos herrlichere Gegenden auch in anderen Welten zu schauen und zu genießen, - wenn das Anschauen von wunderschönen Gegenden und Landschaften für eine Seele schon ein höchster Seligkeitsgenuß sein sollte. Aber Ich meine, daß es nach dem Abfalle des Leibes für eine lebensvollendete Seele wohl noch höhere Seligkeitsgenüsse geben wird als bloß das Anschauen von sehr schönen Landschaften.

04] Ich setze dir den Fall, daß du hier - sage - nur hundert Jahre hindurch diese Landschaft in einem fort betrachten müßtest und wärest dabei aber auch mit allen anderen Leibesbedürfnissen auf das reichlichste versorgt, so stehe Ich dir dafür, daß dich diese schöne Landschaft bald derart zu langweilen anfangen würde, daß du sie dann in deinem ganzen Leben nimmer ansehen möchtest. Ja, unter guten Freunden dann und wann macht der Anblick einer schönen Gegend auf das menschliche Gemüt immer einen erhebenden Eindruck; aber dann sehnt sich die Seele bald nach Veränderungen, damit sie größere und gedehntere Erfahrungen mache und aus ihnen auch stets etwas Neues erlerne.

05] So gut aber eine vollkommene Seele jetzt durch die Augen des Leibes das schauen kann, was sie umgibt, so wird sie das Vermögen des Schauens, Hörens und Fühlens in ihrem reinen Geisteszustande wohl auch noch in einem höheren Grade und Maße besitzen, als sie das jetzt in dem schweren und mühseligen Leibe besitzt! Ich habe es euch ja schon ehedem unten vor dem Hause gezeigt, wie das innere Schauen der Seele beschaffen ist - worüber du dich selbst im hohen Grade verwundert hast -, als dir die von Mir auf eine kurze Zeit im Geiste entzückten und zuvor nie in Rom gewesenen Menschen deine große Vaterstadt so genau beschrieben haben, wie du sie selbst nie genauer mit deinen Augen hattest schauen können.

06] Da wirst du denn doch wohl einsehen, daß die Seele in ihrem freien und rein geistigen Zustande ein viel höheres Sehvermögen besitzt als in dem beschränkten Leibe! Wenn aber erwiesen daß (der Fall ist), so kannst du, wenn du Meinen Worten und Zeichen und auch deinen im Fache des Seelisch-Geistigen gemachten Erfahrungen den vollen und lebendigen Glauben schenkst, doch wahrlich nicht sagen, daß man in einer solchen Gegend dem Leibe nach schwerer sterben würde als in einer öden und düsteren Landschaft! Daß eine jede Seele nach dem Tode des Leibes aber fortlebt und sich ihres Lebens klarst bewußt ist, das wirst du etwa doch nicht mehr bezweifeln?«

07] Sagte Agrikola: »Herr und Meister, das sicher nicht, da ich doch schon zuvor in Spanien, in Sizilien und in Ägypten Erfahrungen über das Fortleben der Seele nach dem Tode des Leibes gemacht habe, und das sicher auf eine alleruntrüglichste Weise. Aber es handelt sich hier um etwas ganz anderes, und das ist es eben, weshalb ich mir ehedem eine Bemerkung zu machen erlaubte!«

08] Sagte Ich: »Und worin besteht denn dieses dein anderes? Rede nun nur zu; denn wir haben noch viel Zeit bis gen Mittag hin, um noch so manches zu verhandeln!«

09] Es traten aber nun auch die vielen anwesenden Zöllner vor Mich und fragten Mich, ob Ich ihnen wohl darum nicht gram werden würde, so sie bis an den Abend hin sich nach Hause begäben, um alldort nachzusehen, ob alles wohl in der Ordnung sei, und ob sich ihre Diener bei dieser Gelegenheit gegen das noch immer auf allen Straßen hereinziehende Volk etwa nicht irgendwelche Bedrückungen erlaubten.

10] Sagte Ich: »tut das und tut Gutes nun für so manches Üble, das ihr durch viele Jahre an den Menschen begangen habt, so werden euch eure Sünden vergeben sein! Wie ihr aber nun frei abzieht, so könnt ihr auch frei wiederkommen.«

11] Mit dem verneigten sich die vielen Zöllner, dankten für alles Empfangene und Genossene und zogen dann schnell ab.



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