Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 5, Kapitel 184


Die Vorexistenz und Weiterexistenz der menschlichen Seele.

01] Sagte Hiram: ”Mein unendlich geachteter Freund, dich zu verstehen, da gehört wahrlich mehr dazu als der eherne und sehr begrenzte Verstand eines Kynikers! Ihr setzt uns mit eurem sonderbaren, nie vermuteten Erscheinen schöne Flöhe in die Ohren, und ich fange beinahe an wahrzunehmen, daß es im Menschen offenbar ein höheres Wesen geben müsse denn das nur, was wir uns höchst beschränkt als Mensch vorstellen. Und es ist mir nun also, als so ich mir's nahe denken müßte, daß dies höhere Wesen im Menschen sowohl eine Vor- als auch Nachleibesexistenz haben müßte; denn sieh, als ich in Ägypten war, kannst du nahe noch kaum auf der Welt gewesen sein!

02] Es muß aber dein innerer Geist dennoch schon lange vorher bestanden haben, damit er als ein unsichtbarer Zeuge bei allen meinen ihn vielleicht aus mir unbekannten Gründen näher angehenden Handlungen zugegen sein konnte. Auf diese Weise allein kann ich mir deine Allkenntnis und Alleinsicht in alle meine Lebensverhältnisse so ein wenig versinnlichen! Freilich wußtest du auch um die Lebensverhältnisse des Aziona ebensogut wie um die meinen. Allein, das macht hier eben nicht viel Unterschiedes; denn du hast als ein noch reiner Urgeist sicher auch auf ihn, so wie auf mich, deine allsehenden geistigen Augen gelenkt! Eine Präexistenz deines inneren Geistes läßt sich sonach nicht leichtlich mehr in Abrede stellen, deine leibliche Mitexistenz auch nicht; aber wie sieht es etwa mit der Nachexistenz aus? Dafür scheinen bis jetzt doch noch alle Riegel und Tore verschlossen zu sein!“

03] Sagte Johannes: ”Viel weniger als für die Präexistenz! Es ist mit dieser schon auch etwas, aber eben nicht so frei individuell wie mit der Nachexistenz; denn damit eben das Geistessein nicht fortwährend ein an und in den Urgeist der ewigen und unendlichen Gottheit schroffst gebundenes bleibe, hat eben die Gottheit Selbst zwischen Sich und den Mensch werden sollenden Geist die Materie gestellt, daß der ursprünglich göttliche Menschgeist, so er zu einer gottähnlichen Selbständigkeit gelangen will, sich aus den mehr ätherisch-seelischen Teilen ein ihm ähnliches Wesen schaffe, es mit einer substantiellen, aber dennoch auch geistig-intelligenten Seele belebe und diese dann ganz unvermerkt fortbilde in der möglichsten Freiheit ihres Willens. Und hat diese Seele in aller guten Erkenntnis und daraus erfolgten Tätigkeit also sehr zugenommen, daß sie ihrem urgöttlichen Geiste ähnlich geworden ist - hauptsächlich durch die wahre Erkenntnis des einig wahren, ewigen Gottes, in der Liebe zu Ihm wie auch daraus zum Nächsten - und dabei voll Demut, Geduld und Bescheidenheit ist, dann geschieht eine für Ewigkeiten untrennbare Einigung der Seele mit ihrem urewigen Geiste.

04] Dadurch aber geschieht dann das: Die aus der Materie entstammende Seele wird dann selbst ganz Geist; der Geist aber wird dann zur Seele in der Seele und ist dadurch ein ewig freies, selbständiges und ganz gottähnlich frei selbsttätiges Wesen, begabt mit allen jenen Eigenschaften, die der urewigen Gottheit eigen sind.

05] Daß hernach der Leib nichts mehr dabei zu tun hat und haben kann, das versteht sich ja doch leicht von selbst ohne weitere Erklärungen! Denn die Speise, die ein Mensch täglich zu sich nimmt, macht ja auch eine Zeit lang einen periodischen Nährteil des menschlichen Leibes aus, aus dem der schon gediegenere Leib und aus ihm dann auch die Seele ihre substantiell-spezifische Nahrung und Ergänzung nehmen. Wenn aber der periodische Nährleib das seinige getan hat, so wird er als für weiterhin unbrauchbar aus dem mit der Seele noch eng verbundenen gediegeneren Leibe geschafft. Bliebe er als ein gar grobmaterieller Teil des Leibes im gediegeneren und mit der Seele schon näher verwandten Leibe, so würde er offenbar den unvermeidlichen Tod des gediegeneren Leibes herbeiführen.

06] Ist aber einmal die Seele im Leibe gehörig ausgebildet, das heißt in ihrem Formwesen sowohl, als auch im freien wie immer gearteten Erkennen, Lieben, Wollen und Handeln, so kommen nun zwei Fälle vor: Entweder ist die Seele damit auch schon für ihren göttlichen Geist ganz reif, das heißt, sie ist schon ganz geistig, oder die Seele ist wohl schon für sich als ein geistiges Wesen ausgebildet und sozusagen konsistent, aber das innere, geistige Element steht noch sehr in Frage, und sie zeigt zufolge ihrer großen und notwendig ganz freien Bestimmung viel mehr Neigung, wieder ganz in die Materie überzugehen, als sich in ihr geistiges Element frei hinüberzuschwingen; so wird sie in beiden Fällen des Leibes ledig gestellt.

07] Im ersten und natürlich glücklichsten Falle hat der göttliche Menschgeist mit ihr schon seinen Zweck erreicht und benötigt sodann wohl für ewig keines materiellen Mittels mehr, weil er einmal durch dasselbe seinen Zweck schon auch für ewig vollkommen erreicht hat. Oder der allsehende und allfühlende Geist merkt es, daß seine von ihm hervorgerufene und aus der Materie gebildete Seele sich mit der Zeit wieder zu dem Elemente zu neigen beginnt, von dem sie eigentlich genommen ward, - dann reißt sie ihr urgöttlicher Geist, wenn auch unter den größten Schmerzen, aus dem Leibe und bildet sie dann erst jenseits, also im Reiche der Seelen, für sich aus, aber stets so unvermerkt als möglich; denn jede unfreie und gerichtete Ausbildung einer Seele wäre schlechter noch als gar keine.

08] Dennoch aber ist hier wohl diese Bemerkung als sehr zu beherzigen zu erwähnen, daß eine erst jenseitige Ausbildung einer Seele erstens um vieles länger dauert und dennoch nie jenen ganz allerhöchsten Grad erreichen kann, als so die Ausbildung der Seele schon diesseits, noch im Leibe, geschehen ist; denn dadurch wird auch der edlere Teil des Leibes mitgeheiligt, und nahezu alles Fleisch erreicht mit der Seele und mit ihrem mit ihr vereinigten Geiste eine Art Verklärung und sogleiche Auferstehung und bildet dann für ewig ein mit Seele und Geist vollends vereintes Wesen. Allein, das erreichen auf Erden nur höchst wenige, - aber kurz nach dem Leibestode recht viele. - Und sieh, also wie eine geradeste Linie genau der tiefsten Wahrheit nach hast du nun die Nachexistenz eines jeden Menschen vor dir!

09] Ist dir noch etwas fremd und schwer verständlich, so hast du hier ein leichtes, darüber an mich neue Fragen zu stellen. Darum hast du nun wieder zu reden oder auch der Freund Aziona. Denkt und redet, und ich werde euch dann schon wieder eine rechte Antwort geben!“



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