Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 5, Kapitel 104


Stahars Selbsterkenntnis und Lebenserfahrungen.

01] Erhebt sich nun Stahar und sagt etwas grämlich zum Roklus: ”Du hast wohl im allgemeinen das gegenwärtige Pharisäertum eben nicht unrichtig beurteilt; aber was dein Urteil über mich betrifft, so hast du dich sehr bedeutend geirrt! Denn ich habe geheim ebensogut wie du offenbar die Wahrheit des Lebens gesucht und habe solche auch erst jetzt hier im Übermaße gefunden, und niemandem tat sie wohler denn mir, - und vielleicht auch hatte geheim niemand von euch eine so große Freude daran wie eben ich selbst! Für mich war und ist sie ein unschätzbarer Edelstein, den ich fürder um eine ganze Erde nicht vertauschen möchte!

02] Ich war und bin noch überselig in solchem Lebenslichte; aber es kam ein Wölkchen über mein Gemüt, als ich den Herrn so recht wacker den Becher ergreifen sah. Warum? Das habt ihr bereits heraus, und Floran hat mir mit seinem Lebenswinde das schwarze Wölkchen ganz hinweggeweht und hat dadurch an mir ein sehr gutes Werk verrichtet, wofür ihm der Lohn nicht ausbleiben wird; aber du, Freund Roklus, hast mich ganz rücksichtslos und im Grunde auch ein wenig falsch beurteilt!

03] Daß ich aber jetzt und auch früher nie so ganz zu jenen Pharisäern gehört habe, wie du zuvor ein paar hast auftreten lassen, will ich dir dadurch beweisen, daß ich dir fürs erste deine über mich gelassene ganz falsche Beurteilung von ganzem Herzen vergebe und fürs zweite dir den freundlichen Antrag stelle, auch mich samt dem Floran in euer Institut aufzunehmen!

04] Bei dieser Gelegenheit mache ich dir denn auch bekannt, daß ich zu öfteren Malen im Rate zu Jerusalem wider euer Institut sogar den Vorsitz geführt habe und das Institut mir viel zu danken hat! Denn nach dem alten Sprichworte, daß viele Hunde des Hasen Tod sind, wäre auch das Institut, wenn von uns alle Mittel in Tätigkeit gesetzt worden wären, zugrunde gerichtet worden; aber meiner sicher sehr gediegenen Einsprache ist es endlich gelungen, euer Institut in unserer Nähe zu dulden. Denn ich machte den Templern begreiflich, daß das Institut der Sache des Tempels mehr förderlich als hinderlich ist, indem dadurch viele, die an den Tempel schon lange allen Glauben verloren haben, eben durch die Wunder eures Institutes wieder ihre Augen zu den alten Zinnen des Tempels richten werden, von dem sie aus der Schrift und mündlichen Tradition noch gar wohl wissen, was Außerordentliches sich alles in und außer dem Tempel zugetragen hat.

05] Ich war es auch, der es dem Tempel widerriet, wider die Wunder eures Institutes ins Feld zu ziehen, weil der Tempel dadurch seine eigenen verdächtigen würde. Und siehe, mein Rat wurde von dem Tempel aus bis jetzt noch immer sehr respektiert, und du kannst es nicht behaupten, daß vom Tempel irgend etwas Wesentliches wider euch wäre unternommen worden! Wenn ich mich aber gegen euch schon als noch ein Erzjude seiend also benommen habe, so werde ich als euer Mitglied mich wohl auch nicht gegen euch verhalten, und das nun um so weniger, nachdem wir alle hier die größte Lebenswahrheit gefunden haben und einen und denselben Herrn und Meister von Ewigkeit! Ist dir mein Antrag genehm, so bejahe solches, und ich bin mit allen meinen nicht unbedeutenden Schätzen der eurige im Namen des Herrn!“

06] Hier reichte Roklus ganz gerührt dem Stahar die Hand und sagte: ”Sei mir tausend Male willkommen, Bruder Stahar! Du sollst an meiner Seite das Institut leiten!“

07] Sagt Stahar: ”Ja, was da in meinen Kräften steht, werde ich auch unfehlbar tun; aber wie du selbst es recht gut merken wirst, so sind meine Kräfte nicht mehr irgend weit her, - denn mit etlichen siebzig Jahren Alters kehrt man keine Häuser mehr um! Wohl bin ich sonst noch ganz rüstig und fühle mich noch so recht jugendkräftig, besonders an schönen, heiteren Tagen; aber es verhält sich mit der jugendlichen Springkraft eines Greises ungefähr also wie mit der Anmutsdauer eines schönen und warmen Spätherbsttages. Einige Stunden läßt er nichts zu wünschen übrig; aber gleich darauf erhebt sich ein schaurig kalter Wind, und mit der Anmut des Tages hat es sein Ende!

08] So ist es auch mit mir. Heute fühle ich mich so kräftig wie ein junger Löwe, und morgen kann ich gleich so elend und schwach dastehen, als hätten mir die Vampire jeden Blutstropfen entzogen! Und daher darfst du dir von meiner Hilfeleistung eben nicht gar zu besonders viel versprechen.

09] Aber meine vielen Erfahrungen sollen samt meinen irdischen Schätzen dein Eigentum sein! Du wirst sie noch langehin recht wohl brauchen können, da du erst etliche fünfzig Jahre zählst, die gegen die meinigen ein wahres Jünglingsalter zu nennen sind. An allerlei Erfahrungen aber fehlt es bei mir wahrlich nicht, und vielleicht vermache ich dir mit meinen vielen und sehr wichtigen Erfahrungen einen größeren und fürs Leben wertvolleren Schatz denn mit meinem vielen Golde, Edelsteinen und Perlen!

10] Auch ich war im Anfange ein emsiger Sucher nach Wahrheit. Ich habe auch viele Länder und Städte durchwandert und gesucht Wahrheit und Menschen und muß offen bekennen, daß mein Suchen eben kein ganz erfolgloses war. Ich gewahrte in mir oft ganz helle Momente. Aber wie es in dieser Welt den Menschen schon allzeit ergeht, so erging es auch mir. Heute ist man ganz hell, morgen aber stellen sich allerlei dumme, irdische Sorgen ein und verdunkeln des Menschen Gemüt ganz und gar, und es nützt da kein Sich- Sammeln im Geiste.

11] Die Welt stürmt auf unser Gemüt ohne alle Schonung und Rücksicht ein und zerstört nicht selten jede Spur eines höheren und inneren Lebenslichtes. Und betrachtet man sich nach solchen allerleiartigen Weltstürmen, so sieht es dann im Herzen gerade also aus wie auf der großen Sandwüste Sahara in Afrika; alles höhere Leben liegt wie tot darnieder, und fängt man an, es abermals zu rütteln und aufzurichten, so kommt es einem dabei gerade so vor, als wollte man auf einer wüsten Steppe Äcker, Gärten und Wiesen anzulegen anfangen!

12] Ja, es gehört wohl gerade nicht zu den unmöglichen Dingen, auf der Welt auch aus einer Sandsteppe ein fruchtbares Land zu machen; aber da gehört viel Arbeit und Geduld dazu! Man müßte zuerst gute Brunnen graben, dann fremdes und gutes Erdreich von weit her holen und damit den Sand weit und breit und tief zur Genüge überdecken; dann müßte man aus den Brunnen Wasserleitungen nach allen Richtungen hin machen und das über dem Sande liegende Erdreich fleißig bewässern, so würde dadurch eine frühere Sandsteppe sicher bald zu einem Eden sich umgestalten. Aber wer härte zu solch einer Arbeit die rechte Zeit und Lust und die dazu erforderlichen Mittel?

13] Und, Freund, ebenso geht es bei einem Menschen, der durch die verschiedenartigen Weltstürme zu einer wahren Lebenssandsteppe geworden ist! Es mangelt nicht gerade an der Möglichkeit, ein voller Lichtmensch zu werden; aber wo hat der Mensch da die Kräfte, die Geduld und die dazu erforderlichen Mittel, besonders wenn er nahe ganz allein für sich dasteht?! Ja, hier bei dieser außerordentlichen, noch nie dagewesenen Gelegenheit wird freilich wohl leicht eine noch so wüste Sandsteppe zu einem blühendsten Eden physisch und geistig! Das macht des Herrn Allmacht, die aus Wasser den besten Wein und aus Steinen das wohlschmeckendste Brot darstellen kann!

14] Ich aber habe fünfzig Jahre an mir fleißig gearbeitet und damit bis jetzt doch nichts erreicht; jetzt aber habe ich nichts mehr gearbeitet und wollte auch von keiner Arbeit irgend mehr etwas hören, und eben jetzt in meinem müßigen Zustande hat mir der Herr mehr gegeben, als ich je gesucht habe! Es ist dadurch aus meiner alten Lebenssandsteppe nun wohl ein üppigster Lebensgarten geworden; aber da habe ich nichts mitgewirkt, sondern der Herr hat es freiwillig getan! Wie's aber hier bei mir und den neunundvierzig Gefährten der Fall nun ist, so war es der Fall auch mit vielen andern, von denen du selbst keine Ausnahme machst!

15] Ich habe mich gar oftmals überzeugt, daß die Menschen gerade das, was sie oft am alleremsigsten suchen, am seltensten finden, und dann schon gar am allerseltensten, wenn sie es gerade suchen. Wenn ein Mensch auf einem Wege etwas verloren hat und kehrt um und sucht mit allem Fleiße das Verlorene, so findet er sicher alles eher als gerade das, was er verloren hat. Ein ganz fremder Mensch, der später desselben Weges zieht, der findet ganz zufällig leicht den Verlust seines ihm sicher ganz unbekannten Vorgängers. Warum fand das Verlorene einer, der es sicher nie gesucht hat, und warum derjenige nicht, der es verloren und darauf gleich mit allem Fleiße gesucht hatte? Da haben die Heiden nahezu recht, so sie solch Erscheinungen 'Tücken des Schicksals' nannten!“



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