Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 5, Kapitel 54


Erfahrungen und Ansichten des Essäers Roklus über den Nazarener.

01] Nach einer kurzen Pause Zeit sagt Roklus zum Raphael: ”Liebster, junger, wahrhaft weiser Freund! Ich bin nun da völlig beisammen, um dir zu erzählen, was ich aber auch erst seit kurzem von einigen Handelsleuten aus Nazareth und Kapernaum vernommen habe, denen ich unbedingt wahrlich in bezug auf die Fakta allen Glauben geschenkt habe, weil das Männer sind, denen man glauben kann. Mehr aber weiß ich natürlich auch um keine Silbe, als was ich eben von diesen meinen Geschäftsverwandten als treu und wahr vernommen habe, - und so wolle du mich vernehmen!

02] Im Städtchen Nazareth, am oberen Jordan gelegen, nicht im Flecken gleichen Namens im Gebirge, lebte ein Zimmermann und hatte mit seinem zweiten Weibe einen Sohn gezeugt, den er >Jesus< benannt e. Dieser war bis zu seinem dreißigsten Jahre auch ein Zimmermann und stets ein stiller, viel denkender, aber wenig redender Mensch. Er war sonst ein äußerst gesitteter Mann; man hörte ihn nie zanken und sah ihn auch nie huldigen weder irgendeiner reizenden Venus und ebensowenig dem Bacchus.

03] Eine stete und bescheidenste Nüchternheit war seines Lebens vorherrschender Charakterzug. Daneben war er stets sehr demütig und barmherzig gegen die Armen und verlangte für seine stets ausgezeichnete Zimmermannsarbeit einen nur ganz kleinen Lohn, den er stets höchst gewissenhaft an seine Eltern abführte. Mit dem Tage aber, als er genau dreißig Jahre alt wurde, legte er alles Werkzeug zur Seite und rührte weder Axt noch Säge mehr an.

04] Seine Brüder und seine etwa noch lebende Mutter, alle vollkommen ehrliche Leute, fragten ihn um den Grund, und er soll ihnen folgende höchst mystisch klingende Antwort gegeben haben: "Es ist die Stunde gekommen, von der an ich den Willen meines Vaters im Himmel erfüllen muß, darum ich denn auch in diese Welt gekommen bin!"

05] Darauf verließ er bald das elterliche Haus, zog in die kleine Wüste unweit des Ausflusses des Jordans aus dem See, an dem wir uns soeben befinden, nahm dort Jünger an und lehrte Gott und den Nächsten lieben und warnte sie vor dem alten Sauerteige der Pharisäer, ein Etwas, das mir den Mann sehr wert machte, obschon ich noch nicht das Glück hatte, mit ihm irgend persönlich zusammenzukommen; denn ein Gegner der Pharisäer ist stets unser Freund und kann von uns jede Unterstützung haben.

06] Mir solcher seiner höchst achtbaren Lehre verbinde er etwa eine fabelhafte magische Willenskraft und verübe Wundertaten, von denen es bis jetzt noch keinem Sterblichen etwas geträumt hat. Er soll zum Beispiel jeden Toten ohne alle irdischen Mittel bloß nur durch Wort und Willen wieder ins Leben zurückrufen; so unglaublich und fabelhaft dieses auch immerhin klinge, so sei es dennoch vollkommen wahr! Kurz, er gehe von einem Orte zum andern, lehre die Menschen sich und Gott erkennen auf eine ganz faßliche Weise, und jeder Schritt und Tritt sei von Wundern der außerordentlichsten Art begleitet!

07] Seine etwa schon sehr zahlreichen und stets mit ihm ziehenden Jünger halten ihn für einen Gott, da ein wirklicher Gott mit allen seinen wunderbaren Eigenschaften unmöglich mehr zu leisten imstande wäre. Lassen wir aber das; denn ein Gott, wie wir ihn unter allerlei Formen und Gestalten uns verstellen, ist ja ohnehin nichts als eine lockerste Ausgeburt einer menschlichen Phantasie mit lauter angedichteten Fähigkeiten, die nichts sind gleichwie ihr nichtiger Träger, der erdichtete Gott nämlich!

08] Wenn es sich aber mit dem Wundermanne aus Nazareth also verhält, woran ich durchaus nicht zweifle, da sehe ich gar nicht ein, warum man ihn nicht für einen Gott halten könnte oder sollte! Ich denke mir da also: Dieser Mensch, durch seine Naturanlage sicher befähigter als je irgendein anderer auf der ganzen Erde, hat durch seinen Lebenseifer das Zentrum seines Liebelebens in sich gefunden, hat dann dieses Zentrum allersorgfältigst gepflegt, genährt, gestärkt und ausgebildet.

09] Mit diesem wahren Leben, das ihn als vollends herangebildet ganz durchdringt, setzt er sich in Verbindung mit der allgemeinen Lebenskraft der Natur, und es muß sein Wille dann nicht nur sein eigenes Lebensorgan leiten, sondern alle Organe in der gesamten Natur, weil er durch sein Leben die Leitfäden alles andern Teillebens in den Wesen in sich vereint und dadurch nach seinem Belieben mit allen Wesen schalten und walten kann.

10] Ich hatte dir schon zuvor als noch ein vollkommener Atheist die Bemerkung fallen lassen, daß und wie es ein Mensch nur durch das Auffinden des Lebensprinzips in sich zu einem wirklichen Gotte und zum ewigen Leben bringen kann, vielleicht schon mehrere in der Vorzeit es dahin gebracht haben, in der Folge noch mehrere es dahin bringen werden; und da haben wir den Mann aus Nazareth, der keine Fabel ist, und der meine Behauptung vollkommen rechtfertigt! An den habe ich denn auch gedacht, als ich dir die Bemerkung gemacht habe. Ich gäbe was darum, wenn ich ihn irgendwo auffinden könnte! Ich würde selbst sein Jünger und würde, wenn sich mit ihm alles also verhält, wie ich es vernommen habe durch einige meiner Kollegen, ihn sogar ohne alles weitere Bedenken für einen wahren Gott halten und ihn aus allen meinen Lebenskräften lieben und anbeten, und wenn du mir auch tausend jüdische Jehovas und hunderttausend ägyptische Zeuse entgegenhieltest!

11] Ich sage es dir: Alle Jehovas und alle Zeuse, die ägyptischen, griechischen und römischen, und alle Athmas und Lamas der Indier sind Nullen gegen den einzigen Nazaräer, der ein wahrer Wundermann ist, und den wir Essäer gar nicht fürchten, indem sogar etliche von uns sich unter seinen Jüngern befinden und uns schon mehrere Male brieflich benachrichtigten, wie der Mann ist, was er lehrt, und was alles er tut! Ja, wenn der Mann etwa zufällig hier wäre, dann würde ich dich gar nicht fragen, wie dieses Wunderhaus entstanden ist; denn da würde ich zu dir sagen: >Siehe, das ist ein wahres Gotteswerk!<

12] Einem Gotte ist es möglich, auch eine neue Welt hierher zu erschaffen; denn er hat die Zentrallebensfäden in sich, mit denen er alle Wesen und alle Elemente der ganzen Natur vollkommen in seiner Gewalt haben muß. Er darf nur irgend etwas fest wollen, und es muß sich gestalten nach seiner allerklarsten und vollendetsten Intelligenz. Archimedes, ein großer Weiser, der mit gar manchen Kräften vertraut war, sagte: "Einen festen Punkt über der Erde gebt mir, und ich hebe euch die ganze Welt aus ihren Angeln!" Das war ein keckes zwar, aber immerhin ein großes Wort; er hätte aber mit seinen Schraubenhebeln schon zu tun gehabt, die ganze Erde aus ihren Angeln zu heben.

13] Der Nazaräer aber bedarf keiner materiellen Schraubenhebel, sondern eines Willenszuges, und die ganze Welt samt uns liegt in Atome aufgelöst vor uns, das heißt, insoweit wir uns für uns nach der Auflösung auch noch ein Dasein denken können!

14] Der Nazaräer hat erst den rechten Hebel gefunden und bedarf keines festen Punktes außerhalb der Erde, sondern bloß nur seines Willens, und alle sichtbare Natur hat zu sein aufgehört! Und siehe, dieser Nazaräer gehört gewissermaßen auch unserem Institute an, das heißt dem Institute der wahren, uneigennützigen Nächstenliebe, und wir haben darum keinen größeren und noch wahreren Wundertäter zu fürchten, da wir überzeugt sind, daß es mit ihm auf dieser Erde wohl niemand aufnehmen wird.

15] Oder hättest du etwa Lust, es mit ihm aufzunehmen, der du mir die Haare gen Berg treiben wolltest? Siehe, mein liebster und sonst sehr schätzenswerter Junge, nur immer schön bescheiden! Du kannst sehr vieles wohl vermögen, aber alles noch hübsch lange nicht; aber der Nazaräer vermag gar alles! Mit dem würdest du sehr hart Kirschen essen, du mein Lieber du! Ich werde aber mit dem Nazaräer schon noch selbst irgendwo zusammenstoßen und werde ihm dich vorstellen; gib aber dann ja acht, wie du vor ihm bestehen wirst! - Na, kennst du nun den Wundermann aus Nazareth?“

16] Sagt Raphael: ”Na, sollte ich ihn nicht kennen? Stehe doch schon eine höchst geraume Zeit in seinen Diensten!“



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