Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 5, Kapitel 36


Essäer Roklus wird an Raphael verwiesen.

01] Cyrenius wußte vor lauter Staunen über des Roklus Erfahrungen und über dessen richtige Beurteilung der Erscheinungen - sowohl im Gebiete der moralisch-politischen Lebensverhältnisse (der Völker), ihrer mannigfachen Sitten und Lebensweisen, ihrer Religionskulte, wie auch im noch ausgedehnteren Gebiete der Naturerscheinungen aller Art - nicht, was sich nun darauf mit nur irgendeinem haltbaren Grunde erwidern ließe; denn alle Darstellungen des Roklus basierten auf dem festen Grunde der Erfahrungen, dagegen sich streng genommen nichts einwenden ließ. Das Priestertum kannte der Cyrenius nur zu gut und wußte, auf welchem Grunde es sein altes, finsteres Wesen trieb. Zudem erkannte er im Roklus noch einen guten und höchst uneigennützigen Menschen, der nur darum ein Essäer ward, um durch jedes Mittel, das mit der Humanität und wahren Nächstenliebe gegen alle ohne ihr Verschulden blinden Menschen in keinem Widerspruche steht, der stets und überall leidenden Menschheit zu helfen. Kurz, Cyrenius ward für Roklus stets mehr und mehr eingenommen.

02] Auch alle andern anwesenden Gäste konnten sich nicht genug erstaunen über dieses Essäers Verstandesschärfe und bedauerten nur in einem fort, daß Roklus mit Mir noch keine Bekanntschaft gemacht hatte. Alles war nun schon im höchsten Grade gespannt, was Ich am Ende zu all dem sagen werde. Aber für Mich war es noch immer nicht an der Zeit, Mich mit dem Roklus in eine Art Verhandlung einzulassen, da er denn doch noch so einiges in seinem Herzen barg, was er bei dieser sehr offenen Gelegenheit noch nicht ans Tageslicht stellte; aber für den weiteren Verfolg wäre Cyrenius dem Roklus doch nicht mehr gewachsen gewesen.

03] Ich berief daher geheim den Raphael und gab auch dem Cyrenius den Wink, von nun an dem Roklus den Raphael vorzustellen und ihm zu sagen, daß ein Weiteres nun dieser Jüngling mit ihm abhandeln werde, weil er (Cyrenius) sich für zu schwach und zu erfahrungsarm halte, um für des Roklus allerdings gediegenste Verstandesschärfe solche Gegensätze hervorzubringen, die das Atheistentum des Scharfdenkers zunichte machen würden; aber dieser Jüngling werde ihm, dem Roklus nämlich, schon die allergegründetsten Gegensätze aufzustellen vermögen, dessen er völlig versichert sein könne.

04] Cyrenius wandte sich denn darum nun abermals an den Roklus und tat ihm solches kund.

05] Roklus aber sagte darauf gleich zum Cyrenius: ”Liebster, hoher Freund, wenn du als ein weiser Greis von königlichem Abkommen, der so lange schon das Regierungswerk treibt, dich mir mit dem großen Reichtume deiner vielen Erfahrungen und Kenntnisse nicht Rede zu stehen getrauest, was wird dann dieser zarte Jüngling mit mir machen, der offenbar noch nicht zwanzig Jahre zählt? Oder hältst du meine Gründe für zu schwach und gehaltlos, als daß du mir darauf eine Erwiderung gäbest?“

06] Sagt Cyrenius: ”Nein, nein, das durchaus nicht, sondern es verhält sich die Sache genauest also, wie ich sie dir kundgetan habe! Den Jüngling aber verkoste erst und urteile dann!“

07] Sagt Roklus: ”Nun denn, so wollen wir sehen, auf welchem Platze er den Stein der Weisen gefunden hat!“

08] Darauf wandte sich Roklus an den schon neben ihm stehenden Raphael: ”Nun, so gib denn kund, was du verstehest! Kannst du zunichte machen meine Erfahrungen oder mit Blindheit schlagen meinen Verstand, dann kannst du an mir ein schwaches Schilfrohr finden, das von allerlei Winden nach allen beliebigen Seiten leichtlich gebogen wird; läßt du mich aber, wie ich bin, so wird es dir schwer gelingen, mich umzugestalten aus deinen Erfahrungen heraus! Denn du kannst kaum mehr als Rom gesehen haben und das, was dir auf der Reise hierher alles untergekommen ist! Du warst sicher noch niemals in Ägypten, dem Lande der alten Weisheit, und hast lange nicht aus der Erfahrung kennengelernt, wie viele Arten von Glauben an einen oder mehrere Götter und Göttinnen die verschiedenen Völker haben, und du willst es mit uns zwölf Riesen in den Dingen der Erfahrung aufnehmen? Nun wohl denn, ich habe ja eben auch nichts dawider; wir werden es ja sehen, wie stark behaart etwa deine Zähne sind! Mache dich also auf und widerlege meine rein atheistischen Gründe, und zeige mir den Gott, der sich mit der reinen Vernunft eines Menschen verträgt und mit des Menschen innerstem Lebensprinzip, das offenbar die Liebe ist! Aber mit einem andern Gotte komme uns ja nicht; denn der wird schon von vornhinein verworfen, weil es keinen andern geben kann und auch nie geben wird! Ist ihm das recht, so beginne er, an uns zu fegen!“



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