Jakob Lorber: ''Das große Evangelium Johannes', Band 2, Kapitel 208


Lieblose Gesetzlichkeit und wahre Nächstenliebe.

01] (Der Herr:) »Sieh, es ging in der Nacht eine Maid daher geringen Standes. Sie war irgendwo in Geschäften ihrer Herrschaft, verspätete sich aber so sehr, daß sie auf dem Rückwege von der Nacht eingeholt wurde. Am halben Wege aber trifft sie ein Haus, in dem ein frommer Einsiedler wohnt, wie es ähnliche in allen Gegenden Judäas gibt, die des Reiches Gottes wegen, wie sie es vorgeben und auch wirklich in ihrem Lebensplane haben, ein sogenanntes strenges Leben führen. Die in schon tiefer stürmischer Nacht heimkehrende Maid pocht an des Klausners Tür und bittet um Einlaß und Herberge für die Nacht.

02] Der Klausner geht nun hinaus und ersieht, daß die Flehende eine Maid ist, durch deren Eintritt seine Hütte ja doch offenbarst verunreinigt werden könnte. Darum spricht er, von heiligem Eifer ergriffen: >Betritt, du unreines Wesen, meine gottgeweihte, reine Hütte ja nicht; denn sie würde unrein durch dich und ich endlich unrein durch sie! Ziehe darum weiter und gehe hin, von wannen du gekommen bist!< Mit diesen Worten schließt er die Tür und überläßt ganz leichten Gemütes und froh, dieser ihn verunreinigenden Gefahr losgeworden zu sein, die weinende Maid ihrem herben Lose. Er kehrt darauf frohen Mutes ins Innere seiner Hütte und preist Gott, daß Er ihn vor solch einer Gefahr für seine Seele so gnädigst beschützt hat, und kümmert sich der armen Maid nimmer; ob diese in finsterer Nacht irgend verunglückt oder nicht, das ist ihm gleich.

03] Nach einer Stunde aber kommt dieselbe Maid, vom Sturme übel zugerichtet, zum Hause eines verrufenen Zöllners, der vor den Augen der reinen Juden ein großer Sünder ist. Dieser hört die arme Maid schon von weitem jammern, da er an seiner Schranke Wache hält und auch sonst kein Freund vom frühen Sichschlafenlegen ist, daher man ihm auch von der reinen Judenseite den Beinamen >Ordnungsloser Lump< gegeben hat.

04] Dieser sündige Lump aber zündet schnell eine Fackel an und eilt der jammernden Maid entgegen; und als er sie daherhinkend und weinend findet, tröstet er sie, nimmt sie auf seinen kräftigen Arm, trägt sie in sein Haus, reicht ihr Speise und Trank und bereitet ihr ein gutes und weiches Lager. Am Morgen aber beschenkt er sie noch, sattelt darauf zwei Lasttiere und läßt sie, sie begleitend, also ihre noch ziemlich ferne Heimat ganz gestärkt und wohlgemut erreichen. -

05] Siehe, der Klausner ist ein strenger Büßer und lebt gleichfort in einem sich selbst auferlegten Strafzwange und vermeidet alles sorgfältigst, was irgend seine als rein geglaubte Seele nur im geringsten verunreinigen könnte, und meint, daß Gott an ihm schon ein bedeutend großes Wohlgefallen haben müsse; zugleich aber liegt es ihm auch sehr daran, daß die Welt ihn für einen makellosen Heiligen Gottes halte, und das um so mehr, weil es von ihm allgemein bekannt ist, daß sein Gemach noch nie von einem weiblichen Fuße betreten ward. Natürlich trägt ihm solch eine sittliche Reinheit auch so manche Prozente in seine Hütte, die sicher in eine Abnahme kämen, so irgend am Ende dennoch verraten werden könnte, daß seine Hütte doch einmal verunreinigt ward durch den Fuß einer Maid, von der man denn doch nicht wissen könne, wann sie allenfalls ihre unreine Zeit habe.

06] Dem Zöllner aber ist das einerlei, ob die Welt schwarz oder weiß von ihm spricht, sein Haus hält man stets für das unreinste und zwar so, daß ein echter Jude es ja nicht betreten wird, weil er sich darin auf wenigstens zehn Tage lang verunreinigen könnte. Daher ist dem Zöllner denn auch einerlei, was die Leute von ihm und seinem Hause reden, und er handelt darum frei nach dem Drange seines Herzens und denkt sich dabei: >Bin ich schon ein großer Sünder und voll Unlauterkeit, so will ich aber dennoch Barmherzigkeit üben, auf daß ich dereinst auch Barmherzigkeit vor Gott finden möge!<

07] Sage du Mir, Mein lieber Josoe: Welchem von den beiden würdest du am Ende den Vorzug geben?«

08] Sagt Josoe lächelnd: »Oh, ohne alle Umstände dem Zöllner; denn wenn es auf der Welt lauter solche Klausner gäbe, da sähe es mit dem Leben der Menschen bald ein Ende habend und somit übel aus! Der dumme Klausner könnte mir mit seiner sittlichen Reinheit alle Stunde zehnmal gestohlen werden! Wahrlich, hätte ich den Himmel zu verleihen nach dem Tode, so wäre der Klausner sicher der letzte, dem ich im untersten Himmel den letzten Platz anwiese, und er käme mir nicht weiter, als bis er würde wie der Zöllner! - Habe ich recht oder nicht?«


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