Jakob Lorber: 'Schrifttexterklärungen'


24. Kapitel: »Und Jesus weinte.« (Johannes.11,35: jl.schr.024,01-16)

01] »Und Jesus weinte.«

02] Dieser Text ist überaus kurz, besteht aus drei Wörtchen; aber er ist bei all seiner Kürze so vielsagend und bezeichnend, daß ihr, so Ich euch diesen Text nur einigermaßen auseinandergesetzt darstellen würde, eine ganze Welt voll Bücher zu schreiben hättet. Seine volle Enthüllung aber werdet ihr wohl in Ewigkeit nicht in ihrer Volltiefe zu fassen imstande sein!

03] Zahllose Male steht (in der Schrift) das Bindungswort ,und'; doch auf keinem Platze verbindet es so viel als hier: denn hier verbindet es zwei unendliche Dinge, nämlich die unendliche Liebe und die unendliche Weisheit, Kraft und Macht Gottes in eines. Denn Jesus ist die Weisheit, die Macht und Kraft und somit der Gewalthaber über alles, was da geistig und naturmäßig die Ewigkeit und Unendlichkeit erfüllt.

04] Dieser Jesus aber weinte. Wie und warum denn? - Weil Er mit dem Vater und mit der ewigen Liebe eins ward in der Fülle. Denn einst hieß es bei Moses, als er verlangte, Gott zu sehen: »Gott kann niemand sehen und leben zugleich (Mose2.33,20)!« In Jesus aber sahen viele Gott, und Er ward ihr Leben; und sie starben nicht, darum sie Ihn sehen.

05] Zu Mosis Zeiten weinte die Gottheit nicht; aber Sie richtete zu Tode die Übertreter des Gesetzes, und niemand ward erweckt, der einmal dem Tode verfiel. Hier war dieselbe Gottheit; aber sie hielt nicht mehr in Ihrem unerforschlichen Zentrum Ihre Liebe und Erbarmung verborgen, sondern Sie weinte und erregte Sich dann und löste die Bande des Todes an dem, der im Grabe moderte.

06] Versteht ihr nun etwas, was das Weinen des Jesus hier bedeutet? - Das Weinen bedeutet hier ein unendlich tiefes Erbarmen der unendlichen Liebe in Gott!

07] Über wen erbarmt Sie Sich? - Über den schon vier Tage im Grabe Modernden!

08] Wer von euch hat denn soviel Weisheit, um zu fassen dies endloser Bedeutungen vollste Bild? Meint ihr, Jesus tat hier nur ein örtliches Wunder, um dadurch fürs erste den zwei trauernden Schwestern ihren vielgeliebten Bruder wiederzugeben, und fürs zweite, um dadurch den Juden einen Beweis zu liefern, wie vor Ihm nie jemand solches tat?

09] O seht, das sind ganz unbedeutende Nebenumstände; denn fürs erste hatte Jesus schon vorher Wundertaten in großer Genüge ausgeübt, die mit dieser ganz gleich gewichtig waren; was aber die Tröstung der beiden Schwestern betrifft, so wäre Er sicher nicht verlegen gewesen, Er, der aller Menschen Herzen in Seiner Hand hält, sie mit einem Blicke, ja mit einem leisesten Winke selbst also seligst zu machen, daß sie des verstorbenen Bruders nicht leichtlich wieder trauernd, sondern jubelnd nur gedacht hätten!

10] Das war sonach nicht der Hauptgrund; was denn aber? - Ja, darin liegt die eigentliche für euch nicht erfaßbare Tiefe dieser Tat Gottes! Ich kann sie euch nur durch entfernte Winke andeuten, aber nicht vollends erläutern, indem ein Vollicht in dieser Sache euch das Leben kosten würde. Denn eben bei dieser Tat heißt es ja, daß sie geschieht, auf daß die Herrlichkeit des Vaters im Sohne offenbar werde.

11] Was stellen die zwei trauernden Schwestern vor, die Martha und die Maria? - Sie sind Bilder der Vor- und Nachzeit; das eine mehr äußerer, also vorbildender, das andere mehr innerer und somit geistiger, in sich selbst der Wahrheit voller Art. Im weiter umfassenden Sinne stellen sie unter der ,Martha' die ganze naturmäßige Schöpfung und unter der ,Maria' alle himmlisch-geistige Schöpfung dar. - Seht, das sind die zwei trauernden Schwestern!

12] Um wen trauern sie denn? - Um einen Bruder, der vier gar lange Tage schon im Grabe modert! Die vier Tage bezeichnen vier Schöpfungszustände.

13] Wer ist nun der Bruder? - Doch von hier nichts mehr weiter! Wer von euch nur ein Scherflein Weisheit besitzt, der mag rechnen; aber eine nähere Kundgabe von Mir aus wäre lebensgefährlich!

14] Ihr mögt aber aus dem Gesagten immer so viel entnehmen, eine wie große Tiefe und welche Unerforschlichkeit in den drei Worten »Und Jesus weinte!« liegt. Wenn ihr bedenkt, wer Jesus ist, so werdet ihr es auch wenigstens zu ahnen vermögen, daß Seine Tränen etwas ganz anderes und Größeres bedeuteten als die einer halberblindeten Romanleserin. Das Gemüt Jesu war kein durch Lektüre reizbar gewordenes, sondern das war die ewige Liebe Selbst als Vater im Sohne!

15] Als nachzuahmendes Beispiel aber zeigen sie, die Tränen, daß auch ihr aus der wahren Lebenstiefe heraus barmherzig sein sollt; denn eine durch Romanenlektüre bewirkte Weichherzigkeit und Erbarmung hat bei Mir durchaus keinen Wert und ist um nicht vieles besser als eine Blindliebe und Heirat auf dem Theater. Solchen barmherzigen Menschen will Ich auch einst den Lohn geben, der der Grund ihrer Barmherzigkeit war. Sie sollen auch jenseits große Bibliotheken von zahllosen Romanen treffen und werden nicht eher aus denselben gelangen, bis sie es lebendig an sich erfahren werden, daß eine geschriebene Liebe und ein geschriebenes Leben durchaus keine Liebe und kein Leben sind.

16] Wer nicht aus Mir liebt und nicht von Mir lernt, der tut alles, was er tut, wie ein Toter und wird nicht eher seinem Grabe entsteigen, als bis Jesus nicht über seinem Grabe weinen wird. - Versteht solches wohl; es ist eine große Tiefe darinnen, und so sei das Leben euer Amen!


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