Jakob Lorber: 'Schrifttexterklärungen'


21. Kapitel: »Selig aber sind eure Augen, daß sie sehen, und eure Ohren, daß sie hören!« (Matthäus.13,16: jl.schr.021,01)

01] »Selig aber sind eure Augen, daß sie sehen, und eure Ohren, daß sie hören!« (mt.13,16)

02] Was möchtet ihr wohl meinen, was dieser Text besagt? - Ihr sagt da sogleich: »Wir wissen es nicht!«

03] Denn so ihr sagen würdet: »Wir wissen es!«, da würdet ihr offenbar lügen. Denn ihr müßt zuvor erst den Text im äußeren Buchstabensinne recht genau betrachten. Findet ihr den Text nach dem gewöhnlichen Verständnisse sehr klug, so seid ihr der Wahrheit und dem Lichte, das in diesem Texte steckt, noch ferne; so ihr aber findet, daß dieser Text für den gewöhnlichen Verstand ein Unsinn ist, so seid ihr der Wahrheit und dem Lichte dieses Textes um vieles näher.

04] Es dürfte hier freilich mancher Witzler sagen: »Mit dem bin ich einverstanden; und wer die ganze Bibel als einen Unsinn erkennt, der ist schon das Licht und die Wahrheit selbst!« - Aber in diesem weltwitzigweisen Sinne meine Ich es nicht, wenn Ich sage: »Ihr müßt den Text aus euerm Weltverständnisse heraus erst als einen Unsinn finden, wollt ihr seinem Lichte näherkommen!«

05] Warum denn sage Ich solches ? - Weil dieser Text einen rein himmlischen Sinn hat, der allem Weltverständnissinne schnurgerade entgegen ist!

06] Wie aber ist dieser Text nach dem Weltverständnisse ein Unsinn? - Hört, Ich will es euch kundgeben!

07] Ihr wisst, daß in euch nur das Herz oder die Liebe allein des Wonnegefühls oder irgendeiner Seligkeit fähig ist; und das aus dem Grunde, weil eben nur die Liebe oder der Geist im Menschen allein das Leben ist und somit auch allein nur jeder Empfindung fähig ist. Und somit kann die Seligkeit nicht auch auf das Auge und das Ohr taugen; denn das Auge und das Ohr sind nur Sinneswerkzeuge, die lediglich dem Geiste zu seinen lebendigen Verrichtungen dienen müssen, und es kann weder das Auge noch das Ohr für sich je einer Seligkeit fähig sein, wohl aber der Geist durch das Auge und durch das Ohr, wie auch noch durch die anderen Sinneswerkzeuge.

08] Wenn es demnach in dem Texte beißt: »Selig die Augen, die das sehen; und selig die Ohren, die das hören!«, so ist damit dem Weltverständnisse nach offenbar etwas Widersinniges gesagt. - Nun wollen wir aber sehen, ob es sich mit der Sache auch also verhält!

09] Die gewöhnlichen, etwas besseren Weltchristen verstehen das so, als wären nur diejenigen Augen selig und eben dieselben Ohren, die Mich bei Meinen Lebzeiten auf Erden gesehen und gehört haben, und man sagt, das Ganze sei nur eine etwas schönere Redefigur, in der man das Zeichen statt der Sache setzt, Teile eines Ganzen für das Ganze selbst, oder wie sich die Redekünstler gelehrter ausdrücken: »Signum pro re; pars pro toto.« (Das Zeichen für die Sache; der Teil steht fürs Ganze) Im Grunde aber heiße es dennoch soviel als: Selig sind die Menschen, die Mich Selbst gesehen und gehört haben!

10] Ist das nicht die rechte Erklärung, und nota bene aus dem Munde der besseren Weltchristen?! - Das ist sicher; aber Ich muß nur gleich daneben kundgeben, daß weder Ich, noch der benannte Evangelist je die Rhetorik (Redekunst) studiert haben und da gar keine Rücksicht nahmen auf irgendeine Synekdoche (Vertauschung von Teil und Ganzen), noch auf die allerlei Arten von Syllogismen (Vernunftschlüsse).

11] Unsere Redefigur hatte den alleinigen Namen: Innere göttlich-geistige Wahrheit. Und nach dieser Redefigur, die in Meiner Rhetorik vorkommt, gehört obenangeführter Text weder zur Synekdoche, noch zu irgendeiner Art des Syllogismus; er ist auch keine Paraphrase (Umschreibung) und auch nicht ein Pro- und Epilog (Vor- und Nachwort), sondern, wie gesagt, er ist eine reine, allerinwendigste, göttlich-geistige Wahrheit!

12] Und diese besteht darin: Alle Menschen in der Welt haben gewöhnlich eine große Furcht vor dem Tode des Leibes, und das aus dem Grunde, weil sie weltlich sind und daher nichts erschauen können, was des Geistes ist, und auch nicht zu vernehmen imstande sind, was da wäre eine lebendige Lehre für ihren Geist.

13] In diesem Texte aber liegt eine himmlische Lobpreisung derjenigen, welche durch ein wahrhaftiges Liebeleben es dahin gebracht haben, daß die Welt mit ihrer Nacht wie eine schwere Decke von ihren Augen fiel und das Ohr ihres Geistes geöffnet ward, um zu vernehmen Meine Vaterstimme, und sagt im ganzen soviel als: »Glücklich sind die Wiedergeborenen!« Und in dieser Stellung bezieht es sich in gar keiner äußeren Bedeutung zurück auf allenfalls diejenigen Menschen, die meine Landes- und Zeitgenossen wären, sondern die Beziehung erstreckt sich auf alle Menschen, die je auf der Erde gelebt haben und noch leben werden, wie auch auf die Bewohner aller andere Welten.

14] Denn alles muß geistig regeneriert (erneuert) werden, bevor es ins Geistige und somit ewig Lebendige, wahrhaft Beseligende eingehen will. Und so wird hier unter ,Augen' das Erkennen des Göttlichwahren und unter ,Ohren' das In-sich-aufnehmen desselben und Darnach-tätig-werden verstanden, und es heißt dann auch soviel als: Selig ist der Mensch in seinem geistigen Verständnisse, so er das Göttlichwahre vollends erkennt; und wahrhaft selig ist er, wenn er das Göttlichwahre in sein Leben aufnimmt und darnach ausschließend tätig wird! Denn dadurch erst wird er die Wiedergeburt des Geistes überkommen, aus welcher heraus er ewig keinen Tod mehr sehen, fühlen und schmecken wird.

15] Das ist also die richtige Bedeutung dieses Textes! Aber ganz irrig wäre dieser Text auf diejenigen angewendet, die mittelst ihrer Augen recht viel Bücher durchschauen und durchlesen und suchen dadurch das Licht, oder auf jene Menschen, welche, wenn sie schon nicht lesen können, aber dennoch viel Predigten, Christenlehren und Beichtspiegel anhören; denn die gehen allezeit schon wieder aus der Predigt heraus, als wie sie hineingekommen sind!

16] Ja, gar viele wissen schon oft an der Türschwelle des Bethauses kein Wort mehr, was da gepredigt ward, - und bei so mancher Predigt sind die Ohren der Zuhörer nichts weniger als selig, besonders wenn manchesmal ein eben nicht von zu viel Bruderliebe behafteter Prediger seinen Zuhörern die Hölle so heiß als möglich und den Weg zum Himmel aber überaus schmal, steil und dornig ansetzt, daß am Ende seinen Zuhörern beinahe die Wahl schwer wird, welchen Weg sie wandeln sollen und also denken: »Die Hölle ist zwar heiß; aber es führt ein überaus bequemer Weg dahin! Der Himmel bietet wohl die höchste Seligkeit; aber wer mag ihn erreichen, wenn er nur auf so einem so nahezu unmöglich besteigbaren Wege zu erreichen ist?«

17] Also derlei Ohren dürften gerade nicht die seligsten sein, - ebensowenig als die Augen der Gelehrten, die zwar vieles sehen, aber das, was sie am liebsten erschauen möchten, dennoch nie zu Gesichte bekommen können! Darum sind nur selig, die sich der Wiedergeburt des Geistes befleißen und dieselbe auch stets mehr und mehr erreichen.

18] Es wird aber niemand auf einmal wiedergeboren, sondern nur nach und nach; aber es fängt auch bei niemandem der Akt der Wiedergeburt früher an, als bis er die göttliche Wahrheit zu erkennen hat angefangen, und niemand wird früher vollends wiedergeboren und zur vollkommenen inneren Anschauung und Anhörung des lebendigen Wortes gelangen, als bis er die Welt - was so ganz eigentlich die Sünde ist - freitätig aus sich verbannt hat. Und da erst kommt also im rein himmlischen Lichte der angeführte Text in die tröstliche Anwendung, und alsdann erst sind auch die Augen selig, die das sehen, und die Ohren, die das hören.

19] Ich meine, dieser Text wird auch wieder klar genug dargestellt sein. Trachtet daher aber auch ihr nach seiner Realisierung (Verwirklichung) in euch! Amen.


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