Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 8
104. Kapitel: Jesu Gleichnis vom hungrigen Wanderer.
01] (Jesus:) »Es war ein Mensch, den es in der Nacht auf dem Wege sehr zu hungern begann. Da kam er nahe in der Mitternachtsstunde in einen Ort. Da war ein Haus, das einer Herberge glich, aber alles schlief schon im Hause. Der Wanderer aber fing an die Haustür und auch an die Fenster zu pochen an, und da er eine Zeitlang pochte, so ward der Herr der Herberge wach, ging ans Fenster und fragte mit unwilliger Stimme den späten Wanderer, was es denn sei, darum er in so später Nachtstunde gar so unverschämt an Türen und Fenster poche.
02] Der Wanderer aber sagte: "O Herr, ich komme weiten Weges, habe den ganzen Tag über nichts zu essen und zu trinken bekommen, da auf dem ganzen Wege durch die Wüste kein Haus und keine Herberge anzutreffen war; darum bitte ich dich, daß du dich nun meiner erbarmen und mir ein Brot geben möchtest, daß ich mich sättigen und stärken kann, sonst verschmachte ich!"«
03] Da sprach der Herr der Herberge: "Was fällt dir denn ein, in so später Stunde der Nacht von mir ein Brot zu verlangen! Warte, bis der Tag kommen wird!"
04] Der Wanderer aber ließ sich mit diesem Bescheide nicht abfertigen, sondern bat den Herbergsherrn noch viel mehr und um vieles dringender um Brot.
05] Da gab der Herbergsherr denn doch nach, - und so er dem Wanderer gewisserart auch nicht aus Erbarmung das verlangte Brot gab, so gab er es ihm doch des in so später Nacht unverschämten Bittens wegen.
06] Und seht, aus diesem Bilde könnt ihr entnehmen, wie ein Mensch, der seinen ganzen Erdenlebenstag auf ödem Wege durch die Wüste des weltlichen Irrsals sicher kein Brot zum Leben seiner Seele finden und bekommen konnte, dabei in die tiefe Lebensnacht hineinkommend, am Ende doch noch in der Nacht, dieweil er doch den Weg fortwanderte, an eine Herberge kam, von der er wenigstens dahin überzeugt war, daß sich darin ein Brot des Lebens vorfinden werde!
07] Da fing er denn auch an zu pochen und zu bitten, und es ward ihm am Ende seiner Zeit doch noch zuteil, was er in der Wüste der Welt lange vergeblich gesucht hatte.
08] Und seht, das heißt denn in diesen Tagen und noch mehr in den künftigen finsteren Zeiten das Reich Gottes mit Gewalt an sich reißen; denn wer da suchen wird, der wird auch finden, so er auf dem noch so öden Wege nicht stehenbleibt. Wer an die Türe pochen wird, wenn auch schon in der Nacht, dem soll dennoch aufgetan werden, und wer da bitten wird mit Beharrlichkeit, dem wird auch gegeben werden, um was er gebeten hat! - Habt ihr dieses Bild nun wohl verstanden?«
09] Sagte Agrikola: »Herr und Meister, verstanden haben wir dieses Bild wohl, aber es ist darin, wie ich es entnommen habe, eben nichts so ganz Tröstliches, wie wir solches schon aus Deinen vielen andern Lehren und Worten überkommen haben. Es ist schon wahr, daß die Erreichung eines großen Glückes auch zum voraus großer Opfer und Anstrengungen bedarf; aber so man nach meiner Meinung einen vollends ernsten und festen Willen hat, völlig nach Deiner Lehre zu leben - was ich nach meiner Beurteilung für eben nichts besonders Schweres und überaus Anstrengendes halte, indem Du doch Selbst gesagt hast, daß Dein Joch sanft und Deine Bürde leicht sei -, so muß ich nun aufrichtig gestehen, daß ich aus diesen Worten, nach denen das Reich Gottes in diesen Tagen, wie auch in einer künftigen, wüsten Zeit nur mit Gewalt und Anstrengung wird an sich gerissen werden können, das Trostvolle des sanften Joches und der leichten Bürde nicht herausfinden kann.
10] Wohl aber finde ich in diesen Deinen Worten, daß die Ausbreitung Deiner Lehre, so überaus göttlich wahr sie auch immerhin ist, viele und große Kämpfe und sogar die blutigsten Kriege nach sich ziehen wird! Denn so auf dieser Erde zufolge der Erhaltung und möglichen Gutbildung des freien Willens die vielen Teufel und die nur wenigen echten Engelmenschen ein gleiches und durch nichts als höchstens durch strenge Staatsgesetze etwas beschränktes Handlungsrecht haben, da braucht das Gewinnen des Reiches Gottes freilich wohl sehr viel Gewalt; aber mit dem sanften Joch und mit der leichten Bürde, Herr und Meister, sieht es da ganz schmal aus!
11] Es ist das nur so meine Ansicht, und ich bin der Meinung, daß ich eben auch nicht ganz unrecht haben werde. Aber ich bitte Dich dennoch, daß Du uns das, wie man eigentlich dem Reiche Gottes Gewalt antun muß, um es an sich zu reißen, ein wenig näher beleuchten möchtest! Denn ich möchte Dein sanftes Joch und die leichte Bürde und die Gewalt ein wenig näher beisammen haben.«
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